Verstaatlichte Kinder?

"Mami, gang ich hüt nöd id Chrippe?" klang es aus meinem Auto, als ich in der Tiefgarage meines Arbeitgebers aus dem Auto steigen wollte. Himmel! 7 Uhr 45 morgens, und mein Sohn sass noch hinten im Auto anstatt am Frühstückstisch der Krippe, die er 4 Tage pro Woche besuchte! An dieser war ich aber bereits vor einer halben Stunde vorbeigefahren, gedanklich bereits bei meinem morgendlichen Meeting.

 

Die Episode ist auch heute, knapp 20 Jahre später, immer wieder gut für ein paar Lacher an Dinnerparties. Knapp zwei Monate später wechselte ich dann den Krippenplatz und unser allgemeine Stresslevel ging deutlich zurück, weil mein Sohn nun in der Krippe meines Arbeitgebers untergebracht war, die gleich neben meinem Büro lag.  Ich hatte Glück: zu dieser Zeit gab es noch nicht sehr viele Krippen, und schon gar keine Betreuungsgutschriften. Als alleinerziehende Mutter war ich damals aber auf eine gute Betreuung angewiesen, und mein Arbeitgeber war einer der ersten in Zürich, der eine professionelle, liebevoll geführte Betriebskrippe anbot. Damit war aber mein Problem nur für kurze Zeit vom Tisch: Mit dem Eintritt ins Kindergartenalter ging alles wieder von vorn los, weil es damals an meinem Wohnort keine Tagesstrukturen innerhalb der Schule und des Kindergartens gab, ich musste also meinen Sohn in einen privaten Kindergarten geben, den ich mir zum Glück leisten konnte, weil ich einen anständigen Lohn verdiente. Viele meiner Freundinnen hatten es da bedeutend schwerer, vor allem die Alleinerziehenden mit kleinem Einkommen.

 

Heute gibt es in den meisten Gemeinden im Kanton Zürich Krippen, und Tagesstrukturen in den Schulen gehören zum gesetzlichen Pflichtprogramm. Meine Tochter besuchte jahrelang den Rüschliker Mittagstisch (heute isst sie ab und zu mit Schulfreundinnen bei uns zuhause), und auch wenn sie sich für die rund Fr. 20.- pro Tag hauptsächlich von trockenem Brot ernährte, weil sie das Essen nicht mochte, schien sie mir nur selten unterernährt und ausgemergelt. Auch hier waren wir glücklich, mit unserem Wohnort Rüschlikon eine Gemeinde gefunden zu haben, die bereits zu einem frühen Zeitpunkt fortschrittliche Schulstrukturen anbot, die es den arbeitenden Müttern ermöglichten, mit gutem Gewissen ihrer Tätigkeit nachzugehen. Dass wir dabei als gut Verdienende einen Subventionsbeitrag für die schlechter gestellten Familien bezahlten, hat mich dabei nie gestört, das empfinde ich als fair und solidarisch.

 

Im Fahrwasser der gescheiterten AHV-Reform (es wurde da grad über die Beitragslücke der nicht berufstätigen Mütter debattiert) wurden ja wieder einmal die Stimmen jener laut, die uns Frauen zurück an den Herd schicken wollen und Krippen generell für Teufelszeug halten: Die Kinder würden dort "vom Staat erzogen anstatt von fürsorgenden Eltern", und Kinder könnten nur zu empathischen, wertvollen Menschenbürgern heranwachsen, wenn sie mindestens während der ersten Jahre permanent von einem Elternteil erzogen und betreut würden. Verfolgte man diese Debatten über die sozialen und anderen Medien mit, wähnte man sich zuweilen in die Fünfzigerjahre zurückversetzt: Staatliche Kinder, die später allesamt Bindungsprobleme haben oder gar zu komplett empathielosen Trollen heranwachsen? Verunmöglichte Mutter (Vater?)/Kind-Symbiose? Kalte, unprofessionelle - oder gar böswillige - Krippenangestellte, die, unfähig, dem Kind etwas beizubringen, nur grad als mehr oder weniger unfähige Babysitterinnen fungieren? Mehrmals rieb ich mir bei der Lektüre meine Augen und konnte kaum glauben, was ich da las. Meine eigene Erfahrung zeigt, dass die Qualität der Krippen über die letzten zwanzig Jahre stetig gewachsen ist, die grosse Mehrheit der Betreuerinnen (sie durchlaufen heute eine klar geregelte, äusserst anspruchsvolle Ausbildung)  im Kanton Zürich diesen Job mit allergrösster Professionalität und extrem viel Herzblut ausübt, und die fachliche Kontrolle der behördlichen Stellen - in diesem Falle die Krippenaufsicht, die vom Sozialamt der Gemeinde beauftragt wird - allfällige Missstände sehr rasch aufdeckt und die entsprechenden Korrekturen einfordert oder eine Bewilligung gar nicht erst erteilt.

 

Es ist mir daher ein Rätsel, weshalb wir im Jahr 2017 noch darüber diskutieren, ob Krippen sinnvoll sind und vom Staat angemessen unterstützt werden sollen. Und wenn wir endlich aufhören könnten, uns darüber zu streiten, wer denn nun das einzig richtige Familienmodell lebt - die "konventionellen" Familien, bei denen nur ein Elternteil arbeitet, oder diejenigen, die sich die Arbeit teilen, oder sogar diejenigen, wo beide Elternteile mehr oder weniger Vollzeit arbeiten, bliebe allenfalls mehr Zeit zu evaluieren, welches die sinnvollen Strukturen für familienergänzende Betreuung sind, in welcher Form sich der Staat und die Gemeinden daran beteiligen sollen, und auf welche Weise wir die Lücken in AHV und BVG der Frauen, die während einigen Jahren nicht voll arbeiten wollen oder können, tatsächlich ausgleichen könnten. Diese Diskussionen wären wohl viel zielführender, als uns gegenseitig zu zerfleischen und anzunehmen, es gäbe nur ein einziges "richtiges" Kinderbetreuungs- und Erziehungsmodell.

 

Für uns jedenfalls stimmte unser Modell: Meine beiden Kinder wurden zum Teil in der Krippe betreut, zum Teil von mir, zum Teil von den Grosseltern, und ab und zu an einem Freitagnachmittag auch von ihrem Stief-, respektive Vater. "Verstaatlicht" wirken sie auf mich nicht, auch nicht gefühlskalt und bindungsunfähig. Es sind empathische, interessierte, höfliche (meistens) und gut integrierte junge Menschen mit hoher Sozialkompetenz, die sie sich bereits früh in der Interaktion mit Gleichaltrigen in der Krippe aneignen konnten. Da zwischen ihnen 9 Jahre liegen, war für sie diese (Interaktion mit Gleichaltrigen) ein Segen - sie lernten schon früh, dass sich nicht die ganze Welt nur um sie dreht. Liebevolle Betreuerinnen spielten mit ihnen, bastelten (meine eigene Bastelfreude hält sich extrem in Grenzen), tollten mit ihnen im Wald herum, lasen ihnen vor und erinnerten sie immer wieder daran, dass man teilen und flexibel sein muss, auf andere Rücksicht nimmt, und es manchmal Leute - und auch Kinder - gibt, die man besser mag als andere, man sich aber auch mit solchen arrangieren muss. Alles Fähigkeiten und Einsichten, die meiner Meinung nach für das spätere Leben nicht ganz unerheblich sind. Selbstverständlich: einen grossen Teil meines Einkommens lieferte ich jeweils am Monatsende der jeweiligen Krippe oder Schule ab. Auch das liess sich aber verkraften, auch wenn es hier sicherlich in vielen Gemeinden oder Kantonen noch Nachholbedarf gibt: Die Modellrechnungen zeigen immer wieder, dass gerade Mittelstandsfamilien auch hier oft den Kürzeren ziehen und sich die Arbeitstätigkeit für viele Frauen kaum lohnt. Gerade auch deshalb erachte ich das neue Rüschliker Modell, über das an der Gemeindeversammlung vom 4. Dezember abgestimmt wird, als fair: Die Einkommenslimite für den Bezug der Betreuungsgutscheine liegt bei Fr. 150'000.-, was bedeutet, dass alle Familien, die weniger verdienen, in den Genuss von Gutscheinen kommen, diese aber nach unten selbstverständlich gestaffelt sind, und jenen mit weniger Verdienst höhere Gutscheine zustehen. Dass nun mit dem Wechsel zu diesem System auch von der Objektfinanzierung zur Subjektfinanzierung übergegangen wird, ist ein weiterer grosser Vorteil; so sind nun nicht mehr die wenigen privilegiert, die einen Platz in den beiden offiziell subventionierten Rüschliker Krippen ergattern konnten, sondern auch die anderen, die Plätze in privaten Krippen haben. Eine schrittweise Ausweitung dieser Gutscheine auf andere, auch gemeindeexterne Krippen und natürlich auch auf Tagesfamilien kann ich mir mittelfristig gut vorstellen. Das wäre für mich die folgerichtige Konsequenz dieses Konzepts. 

Die Rüschliker Schulpflege stellt mit der Vorlage zur Einführung von Betreuungsgutscheinen ein umsichtiges, zukunftsweisendes Konzept vor, das hoffentlich von den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern als solches erkannt und am 4. Dezember bewilligt wird.

 

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