Ich bin froh, dass ich mich im Moment nicht auf eine Stelle bewerben muss. Wenigstens nicht mit dem üblichen Bewerbungsprozess. Ich sitze seit Jahren meist auf der anderen Seite des Prozesses und sichte und sortiere Bewerbungen, bevor es dann zu den ersten Anstellungsgesprächen kommt. Aber meine Güte, was da mittlerweile alles an Kenntnissen und Fertigkeiten in der Vita aufgeführt wird – schlicht unglaublich! Angefangen bei Frühchinesisch, über sämtliche während der eigentlichen Berufstätigkeit erworbenen Kursatteste bis hin zu den Yogakursen wird das gesamte Arsenal an zur Verfügung stehenden Fachzeugnissen mitgesandt – glücklicherweise heute meist in elektronischer Form, was wenigstens die Wälder schont. Vor ein paar Monaten schickte jemand sogar einen Beleg seiner Pédicureausbildung mit. Es handelte sich bei der zu besetzenden Stelle aber um eine reine Administrativstelle, daher war ich leicht konsterniert.
Mich interessieren solche Attestfluten herzlich wenig, gehe ich doch davon aus, dass man mit einer in der Schweiz abgeschlossenen Schulbildung vermutlich die Fähigkeit erlangt hat, sich strukturiertes Wissen in den geforderten Fachgebieten anzueignen. Was mich dafür aber sehr interessiert, ist, ob die Person fähig ist, sich in einem komplexen Umfeld zu behaupten, auch in schwierigen Situationen, Entscheidungen (mit Vorteil die richtigen) zu treffen, als Kaderperson Vorbild zu sein, und empathisch auf andere Menschen zuzugehen. Ich möchte mit Menschen zusammenarbeiten, die kritikfähig sind, die sich auch schwierige oder sogar negative Punkte in Qualifikationsgesprächen anhören und diese reflektieren können, und die zu Fehlern stehen und daraus lernen möchten. In dieser Hinsicht würde mich also zum Beispiel die frühere erfolgreiche Pfadileitertätigkeit eines Bewerbers mehr interessieren als viele Schulnoten.
Vor ein paar Jahren hörte ich in diesem Zusammenhang von einem Bekannten den Satz: "Die soll nur ihren Job machen – ihre Sozialkompetenz interessiert mich dabei nicht". Viele andere Beobachtungen in meinem Führungsalltag bestätigen mir diese Sichtweise: Auch im 3. Jahrtausend scheint es immer noch an der Tagesordnung zu sein – auch auf den obersten Führungsetagen – dass die Herren (und, ja, selbstverständlich auch viele Damen) der Schöpfung bei der Neubesetzung von Stellen ausschliesslich Sachkenntnisse überprüfen.
Bei so viel technokratischem Aufführen von akademischen Titeln, Auszeichnungen und Fachkenntnissen erscheint es einem doch beinahe schon wohltuend, wenn man liest, dass bei der nächstjährigen Gymiprüfung im Kanton Zürich – wenigstens beim Kurzgymi – das Arbeitsverhalten der Kids mit in die Gesamtbeurteilung fliessen soll. Dass die Kantonsschulen die Vornoten der Sek-Schüler wieder berücksichtigen sollen, hatte der Kantonsrat im Grundsatz bereits im April 2015 verfügt, als er das Mittelschulgesetz abgeändert hatte. Neu ist, dass ab 2019 auch das Arbeits- und Lernverhalten der Schüler mit 8,3 Prozent an die Gesamtbeurteilung zählen soll. Die Lehrer bewerten hier sechs Aspekte, darunter die Pünktlichkeit, die Sorgfalt, die Mitarbeit im Unterricht oder die Teamfähigkeit der Jugendlichen. Freude herrscht! Da scheint doch wenigstens der Gesetzgeber erkannt zu haben, welche Disziplinen im späteren Arbeitsleben dereinst tatsächlich erfolgsversprechend sein könnten!
Persönlich erscheint es mir ziemlich irrelevant, wie viele Wahrscheinlichkeitsrechnungen – meine Tochter hat sie mir vor ein paar Tagen grad mal wieder zu erklären versucht – und Gleichungen mit zwei Unbekannten man zu lösen imstande war, oder wie viele Seiten des Geschichtsbuches man auswendig zitieren konnte. Bei mir belief sich übrigens das gesamte historische Wissen aus 6 Jahren Gymnasium auf die Zeit der Römer – da mein damaliger Geschichtslehrer, dessen Steckenpferd die Kriege und Kultur der alten Römer waren, kaum je wusste, in welchem Klassenzimmer und ergo vor welchem Jahrgang er gerade stand, kamen wir nie viel weiter. Dafür ging das ja dann grad Hand in Hand mit dem Lateinunterricht, der im Übrigen das spannendste Fach war, weil von einer überaus interessierten, motivierten und empathischen Altphilologin unterrichtet. Leider war ich auch darin nicht allzu erfolgreich (wenn mich heute jemand nach meinen Lateinkenntnissen fragt, kommt mir ausser „rosas fudi“, das dafür meist einige Lacher erntet – nicht mehr viel in den Sinn). Trotzdem waren die Lateinlektionen ein Genuss: vermutlich, weil ich vor allem der Lateinlehrerin zuliebe lernte, und sie mich immer wieder motivieren konnte, nicht aufzugeben. Eine grosse Motivatorin also. Aha. Womit wir wieder bei den essenziellen Managementeigenschaften wären. Kann ich eine Vorgesetzte (oder Lehrperson) ertragen, die kein Vorbild ist? Die mich nicht motiviert und inspiriert? Die nicht offen und ehrlich zugibt, wenn sie Fehler gemacht hat? Die nicht transparent kommuniziert? Und bei der ich mir nie so ganz sicher bin, ob sie aufrichtig ist oder nicht? Ich nicht. Vielmehr noch – ich möchte auch keine solchen Mitarbeitenden. Es ist mir egal, ob jemand einen Fehler macht – solange er/sie das dann auch zugeben kann und versucht, daraus zu lernen. Das braucht zwar Mut, ist meiner Meinung nach aber existenziell, um im Arbeitsleben weiterzukommen.
Was habe ich bloss in meinem Arbeitsleben schon für Fehler gemacht! Der schlimmste: Als mein damaliger Arbeitgeber die erste „Telefonbank“ der Schweiz lancierte, mussten wir die ganze Schweiz mit der entsprechenden Telefonnummer in Form von Weltformatplakaten bepflastern. Komplett überarbeitet und übernächtigt sah ich dann beim Korrekturlesen die Zahlen nicht mehr richtig. In der französischen Version wurde so aus einer 8 eine 9… Nichtsahnend ging ich nach Hause und fiel ins Bett.
Die Reaktion liess nicht lange auf sich warten: Ich wurde frühmorgens auf die Teppichetage beordert, und die altehrwürdigen Hallen hatten wohl dezibelmässig noch kaum je Schlimmeres gehört (die abgebildete Nummer gehörte zu einer welschen Versicherungsgesellschaft). Trotzdem wurde ich „begnadigt“ – von einem überaus sozialkompetenten Manager, der fand, mein ausserordentlicher Einsatz für besagtes Projekt könne diesen einen – wenn auch zugegebenermassen fatalen – Fehler wettmachen.
Für mich war dieses Ereignis ein absoluter Meilenstein. Nie werde ich jemandem aus einem Fehler einen Strick drehen, solange man diesen erkennt, gerade hin steht und die Konsequenzen dafür trägt.
Irgendjemand hat mal zu mir gesagt, man lerne Bescheidenheit und Demut beim Golfspiel. Da das für mich keine Option ist – beim Golfspiel verhält es sich bei mir ähnlich wie beim Latein, es fehlt mir etwas an Geduld – musste ich mir diese stattdessen im Arbeitsumfeld aneignen. Ganz nach der Devise „Gring abe u seckle“ lernte ich „by doing“: Ich versuchte Neues, machte Fehler, tat ab und zu und immer öfter auch Richtiges, fiel auf die Nase, rappelte mich auf, entschuldigte mich, und lief weiter. Und vor allem: versuchte, denselben Fehler nicht zweimal zu machen. Ein wunderbares Übungsfeld für Sozialkompetenz.
Über Sylvester sprach ich mit einem Freund, dessen Firma Dutzende von Gastronomiebetrieben betreibt, über dieses Thema. Wir sinnierten – zugegebenermassen nach ein, zwei Gläsern gutem Wein – darüber nach, wie wichtig oder unwichtig die Schulfächer sind, die unseren Kids derzeit mit so viel Druck eingetrichtert werden. Je länger der Abend dauerte, desto überzeugter waren wir, dass man sich eigentlich darauf beschränken könnte, den Kids Sozialkompetenz zu lernen. Und das Beherrschen (aber das richtige!) einer Landessprache, und vielleicht noch einer zweiten, internationalen. Dazu vielleicht noch digitale Kompetenzen und Programmieren, sodass sie dereinst im ultimativen Machtkampf zwischen Mensch und Maschine die Oberhand behalten würden. Heute, mit dem Abstand von ein paar Wochen und absolut nüchtern – erscheint mir diese Diskussion gar nicht mal so abwegig. Ich bin nach wie vor überzeugt davon, dass wir uns Fachkompetenz wenn nötig jederzeit auch später im Leben noch aneignen (oder in immer mehr Fällen auch durch künstliche Intelligenz ersetzen) können – die Fähigkeit aber, ein empathisches Wesen zu sein, ein Motivator, authentisch, offen und transparent, dürfte wohl in späteren Jahren nicht mehr ganz so einfach akquiriert werden können. Man lernt sie früh und hat sie, oder halt eben nicht.
Meine Tochter befindet sich grad im Evaluationsverfahren für die spätere Berufswahl. Da sie erst dreizehn ist, hat sie tatsächlich noch keine Ahnung davon, was sie einmal werden möchte, was ich ihr nicht verübeln kann. In ihrem Alter war es schliesslich für ein paar Monate lang mein einziger konkreter Zukunftswunsch, mit meinen Freunden an einem schönen Ort ums Lagerfeuer zu sitzen und auf der Gitarre „If you’re going to San Francisco“ zu schrummen. Im Gegensatz zu mir damals weiss meine Tochter aber schon, dass sie dereinst einmal viel Geld verdienen möchte, weil es sonst schwierig werden könnte, ihrem Lieblingssport weiter zu frönen. Einige der Lehrstellen, für die sie sich ansatzweise interessiert, führen zu Berufsbildern, die vermutlich dereinst der digitalen Transformation zum Opfer fallen werden.
Irgendwann – und vermutlich schon viel schneller, als es den meisten von uns lieb ist – werden viele unserer alltäglichen, repetitiven Tätigkeiten von Maschinen und Robotern erledigt werden. Die Zeit lässt sich nicht zurück drehen. Was bleibt uns also? Bereits jetzt schon sind kognitive Computersysteme in der Lage, Muster menschlichen Denkens nachzuvollziehen, zu imitieren und aus Fehlern zu lernen. Ist ja eigentlich logisch: sogar mein Outlook merkt sich täglich, welche Nachrichten ich immer gleich lösche, und verschiebt diese deshalb dann später sofort eigenständig direkt in den "Clutter"-Ordner. Das Anfangsstadium, könnte man also meinen, von Sozialkompetenz. Dennoch dürfte es noch einige Jahre dauern, bis man die menschliche Empathie-, Kritik- und Lernfähigkeit vollumfänglich mit Robotern simulieren kann – ein Vorsprung also für uns, den es zu nutzen gilt.
Natürlich werde ich meiner Tochter trotzdem nicht sagen, dass ihre Zeugnisnoten irrelevant sind - sie wird sie ja schliesslich schon bald in ihre Bewerbungsschreiben packen müssen. Es bleibt zu hoffen, dass sie in ihrem weiteren Schul- und Arbeitsalltag – und vor allem im Bewerbungsverfahren – aber auch aufgrund ihrer Sozialkompetenz, und nicht nur aufgrund ihrer Schulnoten, beurteilt werden wird.
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