Freiwilligenarbeit – das Rückgrat der Schweizer Gesellschaft

Ohne Freiwilligenarbeit hätte mein Sohn mittags nichts zu essen gekriegt. Er besuchte damals den von findigen, innovativen Müttern entwickelten Kindergarten- und Primarschulmittagstisch, erst in Kilchberg, dann in Rüschlikon, weil es damals die heute gesetzlich vorgeschriebene Mittagsbetreuung in der Volksschule noch nicht gab. Ein Segen für mich als arbeitende Mutter. Er wäre nicht ein bis zwei Tage pro Woche liebevoll von seiner Grossmutter betreut worden, und hätte von seiner anderen Oma den hauseigenen Kniggekurs nicht verpasst gekriegt, für den ich ihr heute noch dankbar bin. Die unzähligen Ausflüge und Spaziergänge zu sämtlichen Streichelzoos im Umkreis von 100 Km, die die Grosseltern dann mit meiner Tochter unternahmen, die Vorlese- und Geschichtenabende, den Räbelichtliumzug, das Malatelier, die Grittibänzbackerei, den Samichlausabend in der Chopfholzhütte, das Kerzenziehen, den absoluten Jahreshöhepunkt – nämlich die Rüschliker Chilbi – oder auch die Waldspielgruppe im Rüschliker Wald – all das hätten meine Kinder nie erlebt – eine wahrhaft traurige Vorstellung!

 

Die Abegg Huus-Bewohner hätten keine Vorleseabende, sie müssten noch tiefer in die Tasche greifen, wenn sie von den Mitarbeitenden zum Arzt oder Zahnarzt begleitet werden müssten, als sie das eh bereits tun, und grössere Ausflüge wären gar nicht erst erschwinglich und möglich.  Es gäbe in Rüschlikon keinen Adventsmarkt, keinen Frauen- oder Elternverein, kein Kerzenziehen, keine Fussball- Volleyball- oder Tennisclubs, und auch keine Parteien. Und keine Elternräte an der Schule, auch wenn das unser Gesetz so vorschreibt. (Die alljährlichen Elternabende, an denen diese Vertreter klassenweise gewählt werden, dürften allerdings vermutlich schon aus diesem Grund nicht immer vollzählig besucht werden. Die peinliche Stille, die jedes Mal herrscht, wenn nach neuen Vertretern gefragt wird, ist schon beinahe nicht mehr auszuhalten...). Wenn man sich das einmal so richtig überlegt, wird einem fast schon Angst und Bange, was passieren würde, wenn tatsächlich unsere Bereitschaft, uns freiwillig und ohne Entlöhnung zu engagieren, nicht mehr existent wäre.

Selbstverständlich: Der weitaus grösste Teil der unbezahlten Arbeit weltweit wird von Frauen (und manchmal natürlich auch Männern) im Bereich der Familien- und Haushaltsarbeit geleistet. Auch hier möge man sich gar nicht erst vorstellen, was volkswirtschaftlich geschehen würde, würden wir dafür alle einen "gerechten" Lohn beziehen wollen. Immer wieder erlebe ich, wie Leute spontan mithelfen, sich engagieren, helfen wollen und bereit sind, das Gemeinwohl mitzutragen und ihren Teil zu einer Gesellschaft beizutragen, die immer wieder als die egoistischste aller Zeiten verpönt wird. Aber stimmt das so? Sind wir eine aussterbende Gattung, und wir selbst werden, wenn wir dann einmal im Pflegeheim wohnen, keine Ausflüge oder Vorleseabende mehr erleben können? Werden wir unsere Enkel noch unbezahlt betreuen wollen? Oder freuen wir uns so sehr auf unseren wohlverdienten Ruhestand, dass wir uns auf gar keinen Fall örtlich und zeitlich einschränken lassen wollen? Werden unsere Kinder und Grosskinder alle in "Schlafgemeinden" ohne Vereine, Parteien und andere helfende und zum Gemeinwohl beitragende Freiwillige leben, sofern sie sich nicht in den Grossstädten aufhalten? Wird dereinst jedes Milizamt, jeder Feuerwehreinsatz, jedes Traineramt in einem kleinen Sportverein, jede Kinderbetreuungsstunde von Grosseltern oder Nachbarn zu marktüblichen Tarifen entlöhnt werden müssen? Ein schreckliches Szenario, das wohl keine Volkswirtschaft der Welt verkraften würde. Die Milliarden von weltweit geleisteten Freiwilligeneinsätzen können auf diese Weise unmöglich kompensiert werden. 

 

Was ist zu tun, damit auch die kommenden Generationen begreifen, wie sinnstiftend es sein kann, jemand anderem zu helfen, ihn zu unterstützen? Seinen Teil zum Gemeinwohl beizutragen, und so der Gesellschaft, die einem so viel bietet, etwas zurückzugeben? Die internationalen, meist angelsächsisch inspirierten Schulen in der Schweiz machen es uns zum Teil vor: Dort muss jeder Schüler / jede Schülerin jeweils während einer bestimmten Anzahl Tage Sozialeinsätze leisten. Diese Erfahrung wird als ebenso wichtig erachtet wie die Fertigkeiten in Mathe oder Französisch, auch wenn ihr natürlich viel weniger Stunden gewidmet werden. Meiner Ansicht nach trotzdem eine gute Sache. Sozialkompetenz erlangen bedeutet eben auch, das Gemeinwohl ab und zu über sein eigenes zu stellen, helfende Hände anzubieten und den Schwächeren der Gesellschaft zu Stärke zu verhelfen.

 

Ganz im Gegenteil zur allgemein vorherrschenden Meinung glaube ich nicht, dass unsere Kinder dazu zu egoistisch sind. Vermutlich sind sie aber schnell abgelenkt und im Schnitt etwas volatiler und ungeduldiger, als wir das waren. Unsere Aufgabe, sie zu empathischen und unterstützenden Weltbürgern zu erziehen, wird dadurch aber eher noch grösser. Vielleicht wäre es in diesem Zusammenhang hilfreich, wenn wir ihnen nicht bei jedem noch so kleinen Problemchen auf der Stelle jedes Hindernis aus dem Weg schaffen und den Lehrpersonen die Schuld dafür in die Schuhe schieben würden.  Aber das ist ein Thema, das mindesten einen – oder gleich mehrere – eigene Blogbeiträge verdienen würde.

Wie auch immer – eines scheint mir sicher: Wir müssen die Freiwilligenarbeit unterstützen, fördern, ihr zu neuem Aufschwung verhelfen, sie gebührend anerkennen, und sie vor allem immer wieder thematisieren. Mit den Freiwilligen, unseren Eltern, aber vor allem mit unseren Kindern. Wir sollten den Menschen, die sich selbstlos für andere einsetzen, den Respekt zollen, den sie für Ihr Engagement verdienen, den Dialog mit ihnen suchen um herauszufinden, in welcher Art wir sie noch besser unterstützen können, uns immer wieder mit neuen Ideen und Visionen befassen, und vom Wissen und dem Brauchtum anderer Gesellschaften profitieren, die es (scheinbar?) noch besser machen als wir.

 

Freiwilligenarbeit ist in ihrem Kern eine selbstlose Arbeit; sie richtet sich nicht nach marktüblichen Gegebenheiten, hat keine Partikularinteressen, und dient nur dem eigentlichen selbstlosen Zweck, anderen zu dienen, einem oder mehreren anderen Menschen sein Schicksal etwas zu erleichtern. Eine – so kommt's mir grad in den Sinn – eigentlich urchristliche Aufgabe. Auch als Nicht-Kirchengängerin muss ich das zugeben. Ich bin aber auch überzeugt davon, dass Freiwilligenarbeit über alle Religionen und Ethnien hinweg gleichermassen häufig vorkommt, und so auch einen nahezu idealen Nährboden für Verbindendes schaffen kann, wo manchmal nicht zu überwindende Grenzen zu existieren scheinen. Das Café International in Rüschlikon, das abwechslungsweise von den dorfansässigen Vereinen betrieben wird, und wo Leute verschiedenster sozialer Hintergründe und Ethnien miteinander ins Gespräch kommen, versinnbildlicht diese Tatsache nahezu ideal.

 

Wie aber stellen wir nun sicher, dass auch unsere Generationen in der Zukunft noch freiwillige Helfer haben werden, wenn wir sie am dringendsten benötigen? Hier ist guter Rat teuer. Meiner Meinung nach wird der Erlangung von Sozialkompetenz in Schule und Elternhaus oft immer noch zu wenig Beachtung geschenkt. Diese ist aber absolut unerlässlich, um überhaupt auf den Gedanken zu kommen, sich nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere einzusetzen. Es dürfte wohl niemand, der nicht mit einer guten Portion Sozialkompetenz gesegnet ist, überhaupt auf die Idee kommen, sich freiwillig zu engagieren. Noch heute höre ich aber, wenn es beruflich um die Potenzialeinschätzung von Mitarbeitenden geht, immer noch allzu oft die Aussage: "Solange die Fachkompetenz stimmt, ist alles in Ordnung". Man höre und staune. Muss ich selbst für einen meiner Arbeitgeber Stellenbewerbungen beurteilen, ist es immer zuerst die Sozialkompetenz, die ich auszuloten versuche. Stimmt diese, und kann man auch die intellektuellen Fähigkeiten einer Person in etwa beurteilen, ergibt sich meiner Meinung nach das meiste andere von selbst. Die meisten Sachkenntnisse kann man sich dann auch später noch aneignen, wenn eine gute Basis vorhanden ist. Fehlt es aber an Sozialkompetenz und Empathie, nützen die besten Schul- und Universitätsnoten nicht viel, und schwierige Konflikte sind vorprogrammiert. Mein diesbezügliches Mantra können meine eigenen Kinder wohl schon lange nicht mehr hören...

Also Sozialkompetenz als Schulfach? Von mir aus ein klares "Ja".  Die Sek Rüschlikon unterrichtet diese Kompetenzen bereits im Fach "SoKo". Viel wichtiger aber scheint es mir, sie in sämtliche Unterrichtsbereiche, -Fächer und natürlich unseren ganzen Alltag einfliessen zu lassen. Das bedeutet halt eben auch, den Kids Empathie und die Freude am Teilen und Helfen zu vermitteln. Diese Lehrtätigkeit können wir aber unmöglich nur der Schule überlassen. Vielmehr muss sie zu Hause geübt, vermittelt und vor allem vorgelebt werden.

 

Für mich schliesst sich hier der Kreis und ich komme auf geradezu stimmige Weise wieder auf mein"altes", ureigenes, Thema zurück, nämlich Mut oder Zivilcourage. Freiwilligenarbeit heisst eben gerade auch Zivilcourage. In einer derart schnelllebigen Welt wie der unsrigen, noch dazu in "Wohlstandsgemeinden" wie Rüschlikon, zu helfen, selbstlos und empathisch zu sein, und auf materiellen Lohn zu verzichten, bedeutet, mutig zu sein. Man muss sich "outen" (z.B. als Feuerwehrmann), muss Führungsstärke beweisen (z.B. als Jugendtrainer eines Sportvereins), muss vor Leute hinstehen, eine eigene Meinung vertreten und verhandeln können (als Parteiangehörige(r), Vorstandsmitglied eines Vereins oder Behördenmitglied, und immer wieder zeigen, dass man sich nicht zu gut ist, auch ohne Entgelt gute Arbeit zu leisten. Das wiederum widerspricht in mancherlei Hinsicht etwas dem gängigen Zeitgeist, der uns immer wieder eintrichtert, nur Arbeit, die Lohn verdient, sei auch wertvolle Arbeit. Das gilt es als Freiwillige immer wieder auszuhalten.

 

Zum diesjährigen UNO-Tag der Freiwilligen am 5. Dezember gilt mein herzlicher Dank denn auch allen voran den Rüschlikerinnen und Rüschlikern, die Tag für Tag den Mut aufbringen, gegen den Strom der Gewinnmaximierung  zu schwimmen und sich selbstlos und ohne Lohn dem Gemeinwohl zu widmen. Danke, dass Sie uns vor Feuern schützen, unseren Kindern Sport beibringen, mit ihnen basteln und in den Wald gehen, mit unseren Senioren singen oder Ausflüge machen, für unsere Gemeinde politisieren, Kinder hüten, Kranke betreuen und begleiten, unsere Kirchen pflegen, die Schulgärten betreuen, sich für Elternräte zur Verfügung stellen, und für alle anderen tausendundein Dinge, die Sie sonst noch für Rüschlikon tun, manchmal ganz still,und ohne es an die grosse Glocke zu hängen.  Sie verändern mit Ihrem Mut und Ihrem Engagement die Welt!

 

"Zweifle nie daran, dass eine Gruppe engagierter Menschen die Welt verändern kann. 
Tatsächlich sind das die einzigen, die das je getan haben."

Margaret Mead, amerik. Ethnologin

 

 

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