1. August in der Badi Rüschlikon

Guten Abend Rüschlikon!

 

Ich möchte Ihnen heute zuerst eine Geschichte erzählen:

 

Sherlock Holmes und Doktor Watson gingen campen. Nachdem sie ihr Zelt aufgebaut hatten, gingen sie früh schlafen. In der Nacht wachte Holmes auf und weckte seinen Assistenten: "Watson", sagte er, "öffne die Augen und schau hinauf zum Himmel. Was siehst du?" Watson antwortete schlaftrunken: "Ich sehe Sterne, unendlich viele Sterne." – "Und was sagt dir das, Watson?", fragte Holmes. Watson dachte kurz nach. "Das sagt mir, dass dort draußen unzählige Galaxien und Tausende Planeten sind. Ich nehme deshalb an, dass eine Menge gegen die Theorie spricht, wir wären allein im Universum. Und was sagt es dir, Holmes?" – "Watson, du bist ein Narr", rief Holmes. "Mir sagt es, dass jemand unser Zelt gestohlen hat!"

 

 

 

Die Schnellen unter Ihnen wissen schon, weshalb ich diese Geschichte gewählt habe: Es ist wichtig, das Wesentliche nicht aus den Augen zu verlieren. Und weshalb ist das nun mein Thema am 1. August?

 

 

 

Gemäss dem letztjährigen „Global Wealth Report der Credit Suisse sind die Schweizer die reichsten Menschen der Welt. Schweizer Privatpersonen besitzen rund 3,5 Billionen US-Dollar, was 1,4 Prozent des globalen Privatvermögens entspricht. Seltsamerweise leben übrigens nicht alle davon in Rüschlikon! Doch: Die Schweiz stellt nur 0,1 Prozent der Weltbevölkerung. Schweizer sind somit elfmal wohlhabender als der Weltdurchschnitt. Unglaublich! Und trotzdem scheint Jammern und Panikmache mittlerweile zum Volkssport geworden zu sein: Wir lamentieren, dass Politiker alles falsch machen, die Schweiz von Ausländern überflutet wird, die uns alle Jobs und Studienplätze wegklauen, und alles deutet daraufhin, dass wir unsere hohe Lebensqualität schon bald einbüssen werden. Ja, meine Damen und Herren, zynischerweise scheinen die, die am lautesten jammern, auch oft die zu sein, die selbst nur wenig zum Gemeinwohl beitragen möchten, oder den Mut haben, Dinge selbst in die Hand zu nehmen, um etwas zu verändern und zu bewirken.

 

 

 

Martin Luther King sagte einmal:

 

 

 

Am Ende werden wir uns nicht an die Worte unserer Feinde erinnern, sondern an das Schweigen unserer Freunde.

 

 

 

Weshalb können wir in der Schweiz einen steten Rückgang der Stimmbeteiligung bei den jüngeren Altersgruppen beobachten? Etwa, weil sie mit allem zufrieden sind? Oder weil es uns ganz einfach zu gut geht? Oder weil sie keine Zeit mehr haben, um abzustimmen? Oder, das ist es vermutlich, weil man in der Schweiz noch nicht mit dem Daumens-Emoji, der nach oben zeigt, oder dem kleinen roten Herzli, via Facebook, Instagram oder SnapChat abstimmen kann? Vermutlich kommt das der Sache schon etwas näher… Aber eben: Wer schweigt, ist einverstanden. Oder er merkt einfach nicht, wie wichtig es wäre, Vorkehrungen zu treffen, dass alles Gute so gut bleibt, wie es ist.

 

 

 

Der deutsche Botschafter in der Schweiz, Otto Lampe, der im Juni pensioniert wurde und die Schweiz verliess, schrieb zum Abschied in seiner Glosse „Liebeserklärung an die Schweiz“:

 

 

 

Aus bitterer Armut innerhalb weniger Generationen durch harte Arbeit, Kreativität, Disziplin, Gemeinsinn und ein wenig Unterstützung von aussen zu nachhaltigem Wohlstand zu gelangen und nach Jahrhunderten blutiger Konflikte durch einen mehr oder weniger fairen regionalen Interessenausgleich, dezentrale Organisation, Subsidiarität und effiziente Verwaltung eine funktionierende «Willensnation» zu etablieren, sind nur zwei Erklärungsmuster für den präzedenzlosen Erfolg dieser (schweizerischen) Gesellschaft.

 

 

 

Jetzt sagen Sie, liebe Rüschlikerinnen und Rüschliker, aber sicher: Wenn es uns so gut geht, wo ist denn da das Problem? Das Problem liegt meiner Meinung nach dort, wo wir den Sinn für das Wesentliche verloren haben. Nämlich, wie gut es den meisten von uns geht – im Vergleich zu den meisten anderen. Dort, wo wir an den Grundwerten der Schweizer Demokratie rütteln. Dort, wo wir uns nicht solidarisch zeigen mit den Schwachen. Nicht offen sind, der Umwelt, und Fremdem gegenüber, oder sogar mit negativen Vorurteilen behaftet. Dort, wo wir Unrecht beobachten, und nicht reagieren, weil es uns zu anstrengend ist. Dort, wo wir unsere Freiheit nicht respektieren, sorgfältig damit umgehen und dazu gebrauchen, sie anderen näher zu bringen. Dort, wo wir intransparent sind, Dinge nicht beim Namen nennen, und lieber schweigen, als uns unbeliebt zu machen. Dort, wo wir Schwächeren in unserer Gesellschaft mit der Arroganz des besser Geborenen  begegnen anstatt mit Empathie und einem offenen Ohr.

 

 

 

Liebe Rüschlikerinnen und Rüschliker

 

Ich möchte Sie deshalb heute Abend zu etwas in meinen Augen ganz Wesentlichem auffordern: nämlich zu mehr Mut! Besinnen wir uns an diesem Geburtstag der Schweiz zurück auf unsere urschweizerischen Tugenden (die Legenden besagen schliesslich, dass unsere Urväter eine ziemlich furchterregende und kampflustige – in dem Fall extrem mutige Truppe waren!); behalten wir den Blick für das Wesentliche; entschlossen, unsere Traditionen zu bewahren, aber mutig genug, auch Erneuerungen zu umarmen. Lassen Sie uns offen und transparent sein – und die Dinge beim Namen nennen. Lassen Sie uns den Mut haben zu handeln, wenn wir Missstände bemerken – beteiligen wir uns an den politischen Prozessen, auch wenn grad kein Daumen- oder Herzli-Emoji zur Verfügung steht. Die Zeit ist reif dafür.

 

 

 

Ich möchte Ihnen zum Schluss und vor der Landeshymne gerne die Präambel zur Schweizerischen Bundesverfassung vorlesen, denn sie passt genau auf das, was ich Ihnen eben erzählt habe:

 

 

 

Im Namen Gottes des Allmächtigen!

 

Das Schweizervolk und die Kantone geben sich folgende Verfassung

 

in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung,

 

im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken,

 

im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben,

 

im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen,

 

gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen,

 

 

 

 

 

Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Schweizer Geburtstag, viel Spass beim Feuerwerk und viel Mut für die Zukunft!

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Sonja (Donnerstag, 02 Juli 2020 13:19)

    Liebe Frau Fossati
    Super Text, tolle Geschichten und Anekdoten: Sie bringen die aktuelle Situation hier bei uns mit wenigen und verständlichen Worten auf den Punkt. Bravo und Danke!
    Sonja von Allmen